Teil des Kiezes war der Schlachtenseer Markt, wo ich, wenn ich „lieb“ war und beim Einkaufen nicht quengelte, ein Wiener Würstchen für 30 Pfennige bekam.
Zum Markt gehörte der Tante-Emma-Laden von Frau und Herrn Zawacki in dem kleinen Haus direkt am Markt. Herr Zawacki brachte uns jahrelang morgens Milch, und als dieses nicht mehr üblich war und die ersten Supermärkte in der Breisgauer Straße aufmachten, wurde es schwieriger für Zawackis, den kleinen Laden zu halten. Meine Mutter, alleinerziehend mit drei Kindern, hatte wenig Geld und selten gab es Fleisch oder Süßigkeiten. Aber es war absolut selbstverständlich, Zawackis weiter die Treue zu halten, und ich glaube, viele Familien aus der Marinesiedlung machten es ebenso. Meine Mutter war ganz deutlich: Wenn Zawackis ein bisschen teurer sein müssen, essen wir eben eine Scheibe Wurst weniger. Wir liebten Frau Zawacki. Sie gab meiner Mutter jede Woche ein sogenanntes „Schokolädchen“ für uns drei Kinder mit. Noch, als ich im Gymnasium war, freute ich mich jeden Sonnabend auf diese Süßigkeit nach der Schule. Ein typisches Foto von Frau Zawacki inmitten ihres ganzen Sortiments, aufgenommen von einem anderen Stammkunden, hängt noch heute in meiner Küche.
Auch die Johanneskirche ist seit meiner Kindheit mit vielen Erinnerungen verbunden. Beim ersten Auftritt im Krippenspiel als Engel war ich 5 Jahre. Gerne ging ich in den Kindergottesdienst, einmal war dies allerdings mit einer schweren Sünde meinerseits verbunden, da ich den Groschen für den Klingelbeutel bereits am Bahnhofskiosk in einen Lutscher umgesetzt hatte und nun ein wahnsinnig schlechtes Gewissen hatte. Weihnachten gingen wir Kinder singen, d.h. wir gingen mit der Gemeindeschwester zu einsamen Leuten und sangen ihnen Weihnachtslieder vor. Nicht selten weinten die aus meiner Sicht alten Menschen und erst später habe ich begriffen, was diese Generation an Traurigem erlebt hatte, was sie zu den Feiertagen sicher besonders quälte.
In der Konfirmandenzeit bei Pfarrer Karnetzki wurden viele ethische und philosophische Probleme des Daseins, die uns sehr bewegten, besprochen. Wer hätte gedacht, dass ich 14 Jahre später einen Mitkonfirmanden heiraten würde. Er hatte mich zugegebenermaßen schon mit 14 durch seine intensive, manchmal sicher dreiste Fragerei beeindruckt.
Auch nach 40 Jahren „Diaspora“ in Bayern klingen die Schlachtenseer Kirchenglocken mir lieb und vertraut.
Von Nicola v. Hammerstein, geb. Rehlinger
Besonders gerne ging ich als Kind (in den 30er Jahren) zu unserem Schuster Luntscher. Er hatte seine Werkstatt in der Waldemarstraße 53 (heute Matterhornstraße), schräg gegen über dem Wochenmarkt in der 1. Etage.
Wenn ich oben an der Tür klingelte, öffnete eine kleine, freundliche weißhaarige Frau und führte mich in die Werkstatt. Auf dem Korridor prangte an der Wand ein Spruch:
Wenn einer eine Reise tut;
Sei's ins Gebirge, sei's ans Meer;
Prüf er zuvor die Schuhe gut;
Sind sie kaputt, bring er sie her.
Der Schuster saß auf seinem Hocker, schaute über den Brillenrand und besah sich die Schuhe. Vor ihm hing die Schusterkugel, die das Licht einfing und sammelte. Auf dem Tisch lagen Unmengen von Werkzeugen.
In den Regalen an der Wand standen Leisten und die Schuhe der Kunden. Es roch nach Leder und seinen Arbeitsmaterialien…
Manchmal erzählte Herr Luntscher etwas von früher. So z.B. als er als junger Geselle auf Wanderschaft war, kam er einmal nach Hamburg. Dort wütete gerade die Cholera. Dies alles versetzte mich in eine ganz andere Zeit, beinahe wie im Märchen. Es war aber ganz real in den 30er Jahren hier in Schlachtensee.
Von Ingeborg Wünsche